Gonzosophie
22. Juli 2007
Simplicissimus (Teil 1) - Selbstverwirklichung
gonzosophie | 22. Juli 07 | Topic 'Minima Memoralia'
Das zentrale Ideal der 68er war das Individuum. Auf ihm gründeten sich die Hoffnungen auf Lösung nahezu aller zeitnaher Probleme, und aus ihr artikulierten sich die Forderungen zur Lösung dieser Probleme: Emanzipation, Partizipation und Autonomie. Unter diese Ziele fiel aber immer auch Solidarität und gemeinschaftliches Leben, so dass keinesfalls eine zersplitterte oder zersetzte Gesellschaft herbeigesehnt wurde. Vielmehr sollten die verfestigten sozialen wie politischen Strukturen gelockert und auf eine ganz neue Basis gestellt werden. Auf dieser Grundlage rückte vor allem die Politik in den Focus des Interesses. Sie wurde als System der Macht- und Rechtsverteilung angesehen, in dem die genannten Forderungen verwirklicht werden konnten. Dabei wurde kein Gang durch die Institutionen, sondern die Politisierung des Alltags gefordert, die Aktion forciert. Egalitäre Mitbestimmung und Mitverantwortung sollten autoritäre Hierarchien ersetzen und deren strukturellen Probleme auflösen. Antiautorität wurde als Fazit zweier, aus Untertänigkeit geborener Weltkriege gezogen, dem „zu sich selbst gekommenem Kapitalismus“ sollte der neue, zu sich gekommene Mensch entgegengestellt werden. Durch Selbstverwirklichung sollte aus Entfremdung Authentizität werden.
Doch muss man erkennen, dass Individualität als Problemlösung schnell zum Selbstläufer, zum generalisierten Vorurteil wurde. Es klingt zuerst plausibel, dass wenn alle Entscheidungen und jegliche Verantwortung beim Individuum selbst lägen, dieses dadurch auch zur Lösung aller eigenen Problemlagen befähigt wäre. Der völlig freie Mensch wird der zu Allem befähigte Mensch, Selbstverantwortung ermöglicht Selbstverwirklichung. Dieses Ideal scheiterte nicht an der Überforderung des Individuums, sondern an der geforderten Freiheit, die unverwirklicht blieb. Dem Menschen wird, vor allem als Mitglied der Gesellschaft, wohl immer eine völlige Autonomie im Denken und Handeln versagt bleiben. Die 68er-Bewegung offenbarte sehr deutlich, wie schnell Eigenverantwortung geleugnet, Entscheidungsgewalt delegiert und Emanzipation hierarchisch verwaltet wird.
Sieht man sich allerdings die Symptome der heutigen gesellschaftlichen Schieflage an, fällt einem auf, dass diese eben den Idealen der 68er entgegengesetzt sind und nicht aus ihnen resultieren. Das Desinteresse gegenüber Politik, die strikte Trennung von Politik und Alltag, die erneute Anerkennung relativierter Autoritäten, der Ruf nach Tugenden und Finanzorientiertheit sind besorgniserregende Züge der neuen Rechten. Oft glaubt man den Wunsch einer Rückkehr in die biedere Kontinuitätsgesellschaft der 50er Jahre oder gar noch eine Dekade früher spüren zu können.
Woran liegt das, ist die Welt zu kompliziert und gefährlich geworden, um frei in ihr Leben zu können? Dem Menschen wohnt der Hang zur Vereinfachung inne, er kann die allumfassende Komplexität, in der sich die Welt ihm darbietet, nicht vollständig erfassen. Doch gerade heute bieten sich ihm zentrale Maßstäbe an, mit denen er nahezu alles kognitiv verarbeiten und eben bewerten kann: Nützlichkeit, Rendite, Kosten/Nutzen-Verhältnis. Diese Kategorien sind zum Urteilsschema sämtlicher Lebensbereiche geworden. Um es mit der Systemtheorie zu beschreiben: Das marktwirtschaftliche System hat seinen Code, seine Struktur in nahezu sämtliche Systeme übertragen. Selbst das religiöse Weltbild stellt man sich heute nach Bedarf und Geschmack aus Komponenten verschiedener Marktteilnehmer zusammen. Man wägt ab, ob einem Wiedergeburt oder Paradies mehr Heil versprechen, sich lohnen. Ironisch wirkt dabei, dass Kirche nicht mehr staatlich verordnet werden muss, sondern der Mensch von heute sich selbst die nötigen Kompensations- und Sedativstrukturen erstellt. Wo er noch vor 50 Jahren zwischen verschiedenen Wertesystemen wie Familie, Staatsbürgerlichkeit, Kirche, Humanität oder Parteizugehörigkeit abwägen und vermitteln musste, kann er heute mit jenen einheitlichen Definitionen auskommen, um seinen Alltag auf allen Ebenen zu strukturieren: Arbeit, Zukunft, Alter, Liebe, Freunde und Gewissen – alles lässt sich in soll/haben Buchungen analysieren und abwägen.
In diesen Strukturen ist die sog. „Eigenverantwortung“ dann auch vollkommen gegeben. Der Konsens besteht in dem Leitsatz, dass jeder für sich das meiste erwirtschaften solle. Da es Konsens ist, bricht es den Kontakt mit anderen Akteuren, d.i. Menschen, eben auf diese Gewinnmaximierung herunter. Eine der ältesten Ethiken, leicht verständlich und heute nur unter Strapazen abzulehnen Schon Platon hat sie vor 2500 Jahren unter der Charakterisierung des Tyrannen abgehandelt. Nur kam er eben zu dem Schluss, dass der Mensch, der nur nach Gewinnmaximierung strebt und alle anderen Komplexitäten diesem „Mehr!“ unterordnet zwar wie der freieste und selbstständigste Mensch erscheint, doch innerlich der unfreieste und unglücklichste sein muss.

Weiterführend:
Politeia, 9. Buch - Der demokratische und der tyrannische Mensch/Staat

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