Gonzosophie
11. Februar 2008
Versuch zur Rehabilitierung der Geisteswissenschaften (I)
gonzosophie | 11. Februar 08 | Topic 'Minima Memoralia'
Wahrlich, wir leben in postmodernen Zeiten. Unsere Aufteilung universitärer Forschung in Geistes- und Naturwissenschaft dagegen ist lediglich modern. Dabei erscheint sie noch lange nicht überkommen, im Gegenteil: Allerorten findet eine Renaissance dieser Trennung statt. Man muss sich nicht erst die Aufteilung der Förderung von „Exzellenz-Initiativen“ ansehen, um eine Dichotomie der Fakultäten zu erkennen. Doch tritt gerade hier offen hervor, welche Seite als exzellent betrachtet wird, welche immer weiter zurückweicht. Die Geisteswissenschaften sterben aus, ihre Gegenstände werden von anderen Disziplinen okkupiert, sie fühlen sich dem neuzeitlichen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht gewachsen. Interdisziplinarität heute bedeutet dem Geisteswissenschaftler aufgrund seiner angeblich unfundierten „weichen“ Ausbildung auf den Rang eines Hilfswissenschaftlers verwiesen zu sein. Somit werden geisteswissenschaftliche Fächer immer mehr zu typischen Nebenfächern - ihre Aufgabe ist vielleicht noch die Kontextuierung der „eigentlichen“ Forschung. Wie konnte es dazu kommen?
Als Wilhelm Dilthey an der Schwelle des 19. zum 20. Jh seinen Begriff der Geisteswissenschaft entwickelte, hatte er damit noch beabsichtigt, ihr damit einen genuinen Wert zuzuweisen. Geschichte etwa sollte dem Menschen Verständnis der Welt aus den Lebenssituationen des Menschen vermitteln können. Sie verstehe, wo Materialisten, wenn überhaupt, nur erklären könnten. Damit lieferte Dilthey heutigen Kritikern offensichtlich die Steilvorlage: Geisteswissenschaft liefert keine Erklärungen, keine fundierten Kenntnisse. Nicht erst in der neueren Debatte um fiktionale Texte wurde der Geisteswissenschaft und der Geschichtswissenschaft im Besonderen denn auch unterstellt, dass sie im Grunde nichts weiter produziere als eben Fiktionen. Ein historiographischer Text unterscheide sich von einem frei erfundenen Roman nur durch den Verweis auf einen längst nicht mehr existierenden Handlungszusammenhang als Plot.
Physik ist da ganz anders: eine strenge Naturwissenschaft. Sie bezieht sich auf, beschreibt nichts als die Wirklichkeit. Wirklich? Sieht man sich an, worüber physikalische Texte Aussagen machen, sieht man sehr schnell wie wenig sie mit der Wirklichkeit zu tun haben. Sie sprechen von Laborbedingungen, von idealen Räumen, von absolutem Vakuum. Man bemerkt, auch diese Texte sind konstruiert, müssen ihren eigenen Sinnzusammenhang erst erstellen und ziehen ihn nicht einfach von der Dingwelt ab. Es geht einem sehr schnell auf, dass Galileos Fallgesetz eben nicht erklärt, wieso mein Füller herunterfällt, sondern nur dass alle Körper im Vakuum unabhängig von ihrer Gestalt, Zusammensetzung und Masse gleich schnell fallen. Auch Newton hat nie eine Theorie über Äpfel verfasst. Die Frage ist jedoch, ob wir aus der newtonschen Apfelanekdote nicht ebenfalls Kenntnisse ziehen können.

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