Gonzosophie
18. Oktober 2010
Einbruch! (2)
gonzosophie | 18. Oktober 10 | Topic 'Fortsetzung folgt'
Das sogenannte Arbeitszimmer war eine einzige Katastrophe. Zinkmann hatte die Tür kaum öffnen können, da auf dem Boden lauter Zeug herum lag. In der Mitte des Raumes kreuzte ein Bücherregal, das sich irgendwie aus seiner Verankerung gerissen hatte, die Sichtlinie in Richtung Schreibtisch. Der Inhalt des Regals befand sich darunter, ein ganzer Haufen Bücher, Mappen und loser Blätter. Irgendwoher kam ein Rascheln. Zinkmann stemmte die Tür weiter auf und bahnte sich seinen Weg unter dem Regal hindurch. Der Schreibtisch war im Grunde völlig aufgeräumt, nur ein Stück abgerissener Tapete lag darauf und die Schubladen waren allesamt herausgezogen. Hinter dem Schreibtisch kauerte Prof. Dr. Dr. Polkmann mit einer der Schubladen auf dem Schoß, in der er aufgeregt kramte. „Zinkmann! Sie kommen abermals zu spät.“ Der Professor holte einen großen Beutel hervor, in dem sich ein ziemlich kleines Stück Grün befand. Dies stopfte er in eine grobe Pfeife, welche er sogleich mit einer Lötlampe anzündete. „Nein, im Grunde bin ich zu früh. Es ist ja auch nicht so, dass…“ „…dass sie mit ihrer Zeit irgendetwas besseres anzufangen hätten. Ja, da mögen sie Recht haben. Jedenfalls gehen sie gleich mal zum Hausmeister und sagen ihm, dass hier offensichtlich eingebrochen wurde.“ „Eingebrochen. Na das erklärt natürlich … alles, Herr Polkmann.“ „Alles!“ erwiderte Polkmann und warf eine massive Buddhastatue durch das Fenster. „Meine Sprechstunde können sie auch gleich absagen.“ „Aber die ist doch erst am Freitag.“ Polkmann nahm einen tiefen Zug „… eben. Wenn sich mich nun entschuldigen würden. Ich habe noch etwas zu erledigen.“ Er klemmte sich eine Mappe unter den Am und öffnete das Fenster. Erst warf er die Mappe heraus, dann sprang er hinterher. Zwischen den herunterflatternden Papieren war ein dumpfer Aufschlag zu hören, gefolgt vom Rascheln und Knacken einiger Äste.

Zinkmann wartete kurz, dann lehnte er sich aus dem Fenster und musterte den Innenhof. Allem Anschein nach hatte niemand das Zerspringen der Scheibe gehört. Zumindest schien es niemanden zu interessieren. Er schloss das Fenster und klebte das abgerissene Stück Tapete vor die Bruchstelle. Selbst ein genauerer Blick ließ ihn nicht durchschauen, was der Professor in seinem Zimmer veranstaltet hatte. Alles deutete auf einen Mondkranken hin, der hier zum Schutze seiner selbst und der Menschheit bei Vollmond eingeschlossen worden war. Nicht zuletzt die Kratz- und, so sah es jedenfalls aus, Bissspuren an den Möbeln. Er überlegte, was zu tun sei. Die abartige Zerstörungswut, von der nicht zuletzt tiefe Fingerknöchelabdrücke im Stuckwerk zeugten, überstiegen eindeutig das Maß normaler Einbrüche und den Vandalismus jeglichen Rowdys. Zinkmann stieß mit seinem Fuß gegen einen Band der Kritik der reinen Vernunft. Plötzlich sprang die Tür auf und knallte gegen den Ascheeimer. Polkmann betrat das Zimmer und verzerrte sein Gesicht in groteskem Schrecken. „Raub! Diebstahl!“, schrie er und zerzauste sich noch weiter das Haar, aus dem ein paar Blätter rieselten. „Zinkmann, alamieren sie die zuständigen Behör… wieso klebt denn dort Tapete am Fenster?“ „Damit es nicht so zieht.“ „Schlecht, Zinkmann, fatal! Welcher Einbrecher würde denn zur Schadabwendung seines zu Beraubenden ein Stück…“ Polkman drehte sich um und sah eine sog. Studierende mit offenem Mund in der Tür stehen. „Feldversuch!“, brüllte er und schlug die Tür zu.

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1. Juni 2009
Dienstag (1)
gonzosophie | 01. Juni 09 | Topic 'Fortsetzung folgt'
„Zinkmann? Sind sie das?“ Er war es, verstand jedoch nicht, woher dieses Gebüsch seinen Namen kannte. „Zinkmann! Sie schickt der Himmel.“ „Professor Polkmann?“ „Ruhig doch! Ich bin recht inkommensurabel situiert, momentan – Ich benötige ihre Hilfe.“ Zinkmann trat an den sprechenden Dornbusch heran, um sich der Authentizität seiner auditiven Reize zu versichern. Inmitten einer Weißdornhecke fand sein Blick tatsächlich seinen Siezfreund Prof.Dr.Dr. Wilhelm Polkmann mit von Abschürfungen lädiertem, bloßem Oberkörper und inmitten einer beträchtlichen Ansammlung verschiedener Spirituosenflaschen, deren Inhalt aber auf nicht allzu mysteriöse Weise verschwunden war. „Entschuldigen sie, wenn ich diese Frage wieder einmal stelle, aber was…“ „Vexieren sie mich nun nicht mir ihren Fragen, Mann. Zur Hülf! Ihre Jacke.“ Zinkmann blickte an sich herunter, sein ausgemergeltes Jackett würde der Größe dieses Mannes kaum gerecht werden. Dennoch streifte er es ab und warf es in die Hecke. Diese begann sich unter kaum merklichem Rascheln zu bewegen und dabei leise, aber deftig zu fluchen. „Benötigen sie sonst noch etwas?“ erkundigte sich Zinkmann. „Ihre offensichtliche Amüsiertheit jedenfalls – mitnichten!“, blaffte es aus der Hecke. Nun erhob sich sein Jackett aus dem Strauch und kämpfte, mit prüfenden Blicken nach links und rechts, den Weg zur Straße hin frei. Der Professor brachte mühsam das Haupthaar in eine gewisse Form, dann klopfte er sich Staub und Weißdorn vom Körper. „So langsam komme ich um eine leichte Sorge nicht herum, Herr Professor, immerhin ist heute Dienstag.“ Polkmann wendete seinen verständnislosen Blick auf den Studenten. „Dienstag? Sonst haben sie keine Sorgen, als dass der Kalender heute einen von sieben möglichen Tagen zeigt?“ „Nun, wenn sie denn allesamt deckungsgleich wären, aber schließlich ist Dienstag ein sogenannter Werktag – einer der vorderen noch dazu.“ „Aha, dann hoffe ich, sie sterben an keinem Montag, Zinkmann, sonst verdirbt ihnen das noch die ganze Woche.“ So würgte Polkmann die Diskussion ab, kramte mühsam einen blauen Inhalator aus der Hosentasche und nahm einen tiefen Zug. Seine Augen strahlten. „Frisch ans Werk, Zinkmann! Immerhin ist Dienstag, der Wochentage fast zuvorderster!“ Sprach’s und stampfte energisch die Straße hinab. Zinkmann blickte ihm nach. Bedächtig nahm er eine Zigarette aus seinem Etui und klopfte sie ein paar Mal auf den Deckel. „Zum Seminar geht’s dort entlang, ihro Magnifizenz.“

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20. Januar 2009
7.Fassadenwechsel
gonzosophie | 20. Januar 09 | Topic 'Fortsetzung folgt'
Zwei Reihen vor ihm standen sich vier Sitze gegenüber. Zwischen ihnen war ein Tisch, auf dem eine großbuchstabige Zeitung von drei Dosen Bier umstanden wurde. Unter dem Tisch befanden sich sechs dicke, unruhige Beine. Siel sah hinaus auf die vorbei ziehende Landschaft, deren Weite ihn schon immer fasziniert hatte. Egal wie oft man so eine Strecke fuhr, man konnte sich doch an kaum einen Punkt dort draußen erinnern. So dachte Siel. Die laut geführten Gespräche um ihn herum waren ähnlich beiläufig. Irgendwo weiter hinten beschwerte sich jemand über im Gang abgestelltes Gepäck mit den Worten: „Da sieht man‘s doch wieder! Armes Deutschland sag ich nur!“ „Armes Deutschland…“, dachte Siel, ohne es weiter zu bemerken. Er blickte auf. Wie lange mochte er nun schon unterwegs sein? Bald musste er ankommen, das Panorama draußen wurde nun schon seit geraumer Zeit flacher und dunkelgrüner. Er war sich gar nicht sicher, was er sich von seiner Ankunft erwartete, welchen Gesichtsausdruck sie hervorbringen würde, welchen er.
Siel trank die Flasche aus und steckte sie zurück in seinen Rucksack. Auf dem Klapptisch lag eines kleines Büchlein, „Nachtwachen“ von Bonaventura. Einige Zeilen waren unterstrichen. „Wir Nachtwächter und Poeten kümmern uns um das Treiben der Menschen am Tag in der Tat wenig.“ Sah er sich um, so sah er ein, warum. Im vorderen Teil des Waggons ermahnte eine Frau zwei Kinder, sich nicht länger zu schlagen. Das würde ihr gefallen, dachte Siel, und schrieb ein paar Zeilen in sein Büchlein. Dessen war er sich nicht mehr so sicher, als sie erst vor ihm stand. Freundlich sah sie ihn an, doch irgendetwas war anders geworden. Ihr Haar nicht, ihre Augen vielleicht? Sie gaben sich die Hand und verließen den Bahnhof.
Obwohl Siel eigentlich damit aufgehört hatte, bat er sie um ihren Tabak. Während er sich eine Zigarette drehte, betrachtete er das Zimmer. Es war unverkennbar ihres. Alles passte, sehr vieles wirkte dabei völlig fremd auf ihn – so, wie er es gewohnt war. Siel blies Rauchschwaden aus und betrachtete sie, während sie an ihrem Rechner saß und unermüdlich mit der Maus herum klickte. Sicher wieder eines dieser blödsinnigen Geschicklichkeitsspiele, dachte Siel. In der Küche hörte man ihre Mitbewohnerin die Waschmaschine entladen. Siel legte sich auf den Rücken, nippte umständlich an seinem Wein und musste leise lachen.
"Lachst du mich schon wieder aus?“
Sie hatte sich umgedreht.
„Nicht nur“ antwortete Siel.
Sie warf ein Radiergummi nach ihm.
Er hatte den ganzen Tag nicht ein einziges Mal aus dem Fenster gesehen. Nun wurde es bereits Abend. Als Siel darüber nachdachte, worüber man vielleicht reden könnte, fiel ihm nichts ein. Ihm fiel überhaupt nichts ein. Er vermochte nur dort zu liegen und sich umzusehen. Alles um ihn herum sah so harmonisch aus, fast wie aus einer anderen Welt. Es gab hier nichts, das ihn beunruhigen konnte - außer ihm selbst.

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14. September 2008
6. Schapp
gonzosophie | 14. September 08 | Topic 'Fortsetzung folgt'
An Martin musste schon wieder eine Frau vorüber gegangen sein. Jede neue schliff seinen Stil ab. Erst die karierten Hemden, dann der Flausenbart - irgendwann hörte man ihn plötzlich von Jogging sprechen. Nun also waren die langen Haare Geschichte und ein wirres Potpourri grober Locken wogte auf seinem Kopf hin und her. Damit sah er so aus, wie man sich einen Komponisten vorstellt und eigentlich stand ihm das ganz gut, aber Veränderungen waren meine Sache noch nie. Sein plötzliches Interesse an verbaler Unterhaltungen war damit jedenfalls erklärt. Dazu passte auch sein Vorschlag mal wieder „so richtig einen drauf zu machen, wie in alten Zeiten!“ Worauf er sich dabei jedoch bezog, konnte ich mir nicht genau erklären, schließlich war Martin niemals auch nur annähernd jemand gewesen, den man Draufgänger hätte nennen können. Er war schon immer eher ein Quatschkopf, in angenehmer Weise, eben kein Spinner - aber da hörte es auch auf. Nun hatte er mich jedenfalls eingeladen, zu einem Bier im „Schapp“.
Ich fragte mich schon lange wieso eigentlich jeder jüngere Wirt glaubte, Kneipen möglichst originell benennen zu müssen. Was soll man sich unter „Schapp“ vorstellen? Sicher nichts einladendes. Trotzdem kann man von einem Lokal mit diesem Namen erwarten, dass es alles andere als günstig ist. Und so war es auch, Holsten für 2,80 der drittel Liter. Aber es waren natürlich trotzdem genug Leute bereit zu bezahlen. Zum Beispiel solche Idioten wie der, der gerade mit einem breiten Grinsen vor mir stand.
„Na, ist doch amtlich, der Laden, oder?“
Ich kann mir meinen Gesichtsausdruck gut vorstellen, mit dem ich diesem Satz begegnete. Das sollte wohl ebenso unkonventionell klingen wie jener Kneipenname. „Amtlich“ war das Volk, das sich dort zwischen dem kastigen Sitzmobiliar hin und her bewegte, in gar keinem Fall. Ich nahm einen großen Schluck Bier. Zum Glück hatte ich wieder angefangen zu rauchen.
Während Martin mir mühsame Satzbrocken hinwarf, auf die ich noch bemühter wirkende Wortfetzen zur Antwort gab, wanderte sein Blick unablässig durch den Raum. Plötzlich verzerrte sich seine Mimik. Das ließ nichts Gutes vermuten. Angezogenen Mundwinkel, Augenzwinkern und Kieferbewegungen. Martin flirtete. Noch glaubte ich an die Möglichkeit zur Flucht, doch da schlurften auch schon zwei paar Chucks auf uns zu. Ich beugte mich über mein Glas und prüfte den Pegelstand. Als ich es ansetzte, sah ich durch den dicken Boden ein paar bleckende Zähne hinter großen Blutwülsten. Das war keine Spiegelung, man lächelte mich offenkundig an.
„Hey, studiert ihr beide nicht Politik?“
Da diese Frage aus jenem Munde wohl kaum so beleidigend gemeint war, wie ich sie empfand, reagierte ich mit einem verzweifelten Lächeln. Was für eine dreckige Stadt. Aber welchen ersten Satz hätte man auch sonst erwarten sollen? Etwa die Frage, ob man nur den Kubismus verdamme oder die gesamte entartete Kunst? Martins Antwort darauf wäre wahrscheinlich ebenso unspektakulär gewesen.
„Naja, nein, aber wir waren schon mal in einigen Seminaren... einfach so aus Interesse.“
Die Antwort darauf folgte äußerst zügig:
„Oh, echt?“
Wer hätte dafür auch lange überlegen müssen. Während Martin sofort dazu überging Namen auszutauschen, sah ich plötzlich, dass dort etwas versetzt hinter der eloquenten Politik-Studentin noch eine weitere stand. Ihre Augen blickten unruhig zwischen uns vieren hin und her. Wunderbar, dachte ich, eine eins zu eins Situation, passt ja mal wieder. Verzweifelt um einen Punkt zum Fixieren bemüht, trank ich schon zum zweiten Mal die letzten Schaumkrumen aus einem leeren Glas. Wie zu erwarten wurde man in diesem Laden nur auf Zurufen bedient, selbst wenn man am Tresen saß. Ich murmelte deshalb irgendetwas zu Martin, von wegen einer neuen Bestellung und wandte mich mit der einen Hand nach meinem Portemonnaie wühlend um, als plötzlich jemand quer durch meinen Schädel brüllte.
„Ey! Meister, wie wär’s mal mit vier Pils hier?!“
Nicht nur die Lautstärke verursachte einen starken körperlichen Schmerz. Ich machte kehrt. Die Beredsame stand nun an Martins Seite, der sie selbstzufrieden angrinste. Somit waren die Wahlverwandtschaften gebildet. Die Übrige stand vor mir, leicht bedröppelt. Wer lässt sich schon gerne den Rücken zudrehen.
„Naja, wenigstens zapfen die hier ordentlich.“
Der Satz taugte offenkundig nicht dazu, die Situation zu verbessern.
„Wenn auch nicht besonders schnell.“
Schweigen. Irgendwas lief hier offensichtlich falsch. Ich beschloss vorerst in ein sichereres Metier zu wechseln und mir eine Zigarette zu drehen.
„Hier ist Rauchverbot, schon seit über nem Jahr.“
Verdutzt blickte ich auf: Was für eine Erleichterung. Mein Gegenüber war in diesen Dingen also auch nicht bewandter als ich. Von meinem Tun brachte mich dieser Satz jedoch auch dann nicht ab, als der Kneipier ihn noch einmal wortwörtlich wiederholte. Kneipier ... heutzutage ist unter diesen Tresenstehern die Meinung nicht unüblich, man könne ein Bier nicht in eins wegzapfen. Und von solchen ungelernten Hilfskellnern soll man sich dann auch noch erklären lassen, was nun der neueste chic sei.
„Naja, macht ja nichts. Drehen wird ja wohl noch erlaubt sein“
„Hoffentlich, sonst DREHT Siel noch ab!“
Dass die Eloquente über diesen faden Kommentar Martins samt Fingerzeig nicht nur lächelte, sondern lachte, war wohl als positives Zeichen zu deuten, wenn auch nur für ihn. Ich versuchte meinen genervten Blick einzig auf den Tabak zu bannen. Er war wohl das Einzige, nicht vollkommen geschmacklose hier. Ich musste ein paar Querstraßen weiter gehen, um nicht zwischen diese komischen Leute zu geraten, die wie gewöhnlich vor den Kneipen standen um zu rauchen. Die Webelstraße verlief quer zu einem kleinen Graben. Hier gab es etwas, dass eher eine Unterführung für das Wasser, denn eine Brücke war. Trotzdem konnte man sich bequem über die Brustwehr lehnen und über das Wasser hinweg rauchen. Einer der Vorteile dieser Stadt war der verhältnismäßig klare Himmel, der große Mond zwischen den weit ausholenden und niedrig bebauten Straßenzügen. Die Straßen wurden um diese Zeit kaum noch befahren. Allein ein paar Nachtbusse, die unter diesem Namen bereits um Acht Uhr abends über das Kopfsteinpflaster holperten, waren fernab zu hören. Ansonsten plätscherte das Wasser völlig ungestört.
Musik war der Lärm kaum mehr zu nennen, der immer lauter wurde, je weiter ich auf meinem Rückweg vorankam. Als ich den offensichtlich überflüssigen Türsteher des Schapps passiert hatte, bot sich mir im Innern ein zunächst erfreuliches Bild – Weder Martin noch die Politikerinnen waren zu sehen. Dennoch war das verwunderlich, war ich doch kaum eine Stunde weg gewesen und niemand hatte versucht, mich anzurufen. Ich setzte mich also wieder an die Theke und bestellte ein Bier. Als ich es nachfüllte und noch immer niemand zu sehen war, sprach mich der Chef de bar an, ob ich nicht mal nach meinem „Freund“ sehen wolle, der sei schon recht lange auf dem „Klo“ verschwunden.
Warum der Nasszellenbesucher, der mir quasi die Tür öffnete, so seltsam dreinschaute, wurde durch die inwändige Szenerie mehr als deutlich. In der hinteren Ecke des gleichsam schlecht belüfteten wie beleuchteten Raumes lag Martin vor einem Edelstahlklosett in einer großen Lache trüber Flüssigkeiten. Kleine Bläschen bildeten sich in diesem Gemisch aus Erbrochenem und Urin, während er immer wieder durch sie hindurch murmelte.
„Eise...eisekalt“
Martin erkannte mich erst, als ich ihm hoch half. Umständlich wischte er sich über den Mund und putze seine Hände an der nassen Hose ab,
„Ach... wo warste denn? Is ganz schön eisekalt geworden.“
„Ja, war nur eben eine rauchen, hinten beim Kanal.“
Wirklich interessieren konnte ihn das nicht.
„Ich hab Krebs... Lunge.“ Er spuckte irgendetwas festes aus.
„Hm.... scheiße. Naja, ich hab auch sowas in der Art.“
Martin grinste. Kein schöner Anblick.

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18. Juni 2008
5. Erwachen
gonzosophie | 18. Juni 08 | Topic 'Fortsetzung folgt'
Herr Siel begann so manchen Tag mit ein und derselben Frage. „Wer macht, zur Hölle, diesen Krach?“ Die Antwort darauf lag meist sehr nahe und aus seiner Hängematte mit wenigen Verrenkungen zu erreichen. Deshalb begann er den Tag oft viele Male, denn den nervenden Alarm seines Weckers pflegte Siel nicht zu deaktivieren. Er drehte ihn immer nur ein paar Minuten weiter, um noch ein wenig Ruhe zu finden vor dem Tag, der schon so früh und ohne Rücksicht vor ihm aufgestanden war. Es konnten auf diese Weise, ganz zum Ärger seiner Nachbarn, Stunden vergehen.
Irgendwann musste er dann doch aufstehen, schon allein der Kopfschmerztablette wegen, die er einzunehmen hatte. Nach seinem langen Kampf gegen die Uhr fand er meist schon eines jener „Bücher“ in der Post, bei denen man von ihm erwartete, dass er sie auch lesen werde. Dabei konnte man diese Papppakete im Grunde nur dort lesen, wo sie allem Anschein nach geschrieben worden waren „Scheißhausliteratur“ nannte Siel dieses Final der modernen Kultur. Man machte es ihm von Woche zu Woche einfacher, arrogant zu sein. Irgendjemand hatte einmal gesagt, kein Gedanke komme über seine Zeit hinaus. Namen nahm Siel schon lange nicht mehr so genau, über den Gedanken aber kam die Zeit sicherlich nicht hinaus.
Die Wochen vergingen und Monate. Für Siel war Zeit längst zu einem seltsamen Begriff geworden, der ihm nicht mehr wirklich etwas sagte. Oft dachte er noch an den Roman, an die Frau, die er aus ihm heraus las. Einige Male noch durchsuchte er das gleiche Antiquariat um nachzusehen, ob vielleicht noch etwas anders von ihr zu finden sei. Er fand nichts. Die Hoffnung gab er nicht auf, die Ahnung, sie könnte ihm jeden Tag unbewusst über den Weg laufen. Sie lief nicht, denn längst war sie tot. Aber spielte das wirklich eine Rolle? Nicht für Siel, der mit den Lebenden, Redenden allzu wenig anzufangen wusste. Das war wohl einer der Gründe, die später zu seinem Suizid führen sollten. Zu dieser Zeit aber darauf angesprochen, hätte er es vehement bestritten. Wohl aus gutem Grund.
Siel wachte auf. Der Wecker würde jeden Moment klingeln. So stellte er seine Füße auf den kalten Boden und tastete sich im Dunkeln zur Fensterbank vor, auf der er gestern Nacht den Wecker vor sich selbst versteckt hatte. Er nahm ihn, legte sich zurück in seine Hängematte und stellte ihn neben sich aufs Bücherregal. Er schlief wieder ein. Siel wachte auf. Der Wecker klingelt. Er drückte die Taste für die fünfminütige Weckverzögerung und drehte sich herum, so gut es ging. Es klingelte. Siel drückte die Taste und schlief wieder ein bis es erneut klingelte. Im Halbschlaf schlug er nach der Taste um zurück zu seinen Träumen finden zu können. An jenem Tag trieb er das Spielchen so weit, bis es schließlich gar nicht mehr klingelte. Das war dennoch kein Triumph. Siel hatte verschlafen und fühlte sich dementsprechend.
Früher hatte er mal einen Computer gehabt und Menschen elektronisch einen guten Morgen gesagt, da war es seltener vorgekommen, dass er sich so hatte gehen lassen. Nun jedoch gab es wenig gute Gründe, die Morgenstunden und ihre Tätigkeiten nicht einfach zu verschlafen. Siel schluckte eine Kopfschmerztablette, zog sich etwas über und ging nach der Post sehen. Auf dem Weg zum Briefkasten traf er einen dieser Menschen, die im selben Haus wohnten. Ob der ihm nun wegen seiner, am frühen Nachmittag unpassend schluderigen Morgenkleidung einen derart grimmigen Blick zuwarf, wurde Siel nicht ganz klar.
Irgendwann klingelte es an der Tür. Siel horchte auf. Es klingelte tatsächlich an der Tür. Etwas verunsichert betätigte er die Sprechanlage.
„Ja bitte?“
„Kerle, Kerle, Kerle!“
„....“
„Na machst du jetzt mal die Tür auf, oder was? Ich bin’s! Jaja, du magst keinen spontanen Besuch, aber...“
Der Türöffner brummte. Siel schlug sich Wasser ins Gesicht und suchte nach einem Kamm. Er nahm irgendein zerknülltes Hemd aus dem Pappkarton. Ihm stach jedoch recht schnell ins Auge, dass er noch immer Jogginghosen trug. Er seufzte und warf das Hemd zurück in den Karton. Es klopfte an der Tür. „Moment...“
Siel blickte sich um, sah aber in der Unordnung nichts, was nun für Martin besonders unzumutbar sein konnte. Die Tür öffnete sich mit einem unüberhörbaren Knarren.
„Tach“
„Tach!“
Da stand er nun also, lächelte und hielt eine Leinentasche in der Hand, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Dabei war es das eben nicht. Was wollte er überhaupt hier? Was war es eigentlich für eine Art, um diese Zeit – gut, es war bereits nach drei Uhr – aber dennoch, was war es eigentlich für eine Art, hier völlig unangemeldet anzuschellen? Noch dazu mit einem Leinenbeutel in der Hand und dämlich grinsend; als habe er, Siel, nichts Besseres zu tun, als hier an der Türe herum zu stehen und sich angrinsen zu lassen.
„Man siehst du verpeilt aus. Stehen wir hier noch lange so rum oder darf ich vielleicht rein kommen?“
Siel ging ein paar Schritte zurück.
„Setz dich, nimm dir nen Keks.“
Irgendwie freute er sich ja, Martin zu sehen. Diesem fiel auf, dass Siel wieder einmal vergessen hatte die Vorhänge aufzuziehen.
„Gemütlich hast du’s hier.“

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18. April 2008
4 Fenster
gonzosophie | 18. April 08 | Topic 'Fortsetzung folgt'
Bei diesem Treffen wurde sie mir wieder einmal deutlich, diese Distanziertheit, die ich eingenommen hatte. Ich betrachtete meine Mitmenschen zusehends wie ein Tierfilmer seine Studienobjekte. Und dem entsprach auch mein Verhalten ihnen gegenüber, mich tarnend und möglichst reibungslos in den herkömmlichen Gang der Dinge fügend, um die Szenerie nicht zu stören und meine Beobachtungen weiterführen zu können. Als Teilnehmer fühlte ich mich schon lange nicht mehr.
Der Nachmittag nahm seinen Lauf, es wurde vorwiegend über die Geschichte der Panzerwaffe diskutiert und inwieweit gesellschaftliche Agenten Handlungsfreiheit besäßen. Die Studentinnen am Ecktisch neben der Theke blieben noch recht lange. Ich vermochte jedoch nicht, weitere Informationen über sie zusammenzutragen. Frauen sieht man auch so schwer an, was sie studieren, da sie ihre Studiengänge eher nach Spiegel-Listen als persönlichem Gutdünken planen.
Am frühen Abend entschuldigte ich mich unter einem Vorwand und kehrte zurück in meine Wohnung. Dort lag alles so, wie ich es verlassen hatte. Natürlich. Es war noch recht früh, also setzte ich mich ans Fenster und blätterte durch ein paar Banalitäten. Es ist ja im Nachhinein recht interessant, was man im Laufe der Zeit für eben dies hält. Und wie seltsam mutet es erst an, einige Zeit nachdem man es aufgeschrieben hat. Ich hatte lange nichts mehr geschrieben und die Lektüre bestärkte mich darin, es dabei zu belassen.
Nach den für die Aufrechterhaltung eines Wohnzustandes üblichen Notwendigkeiten und der Zubereitung einer eher dürftigen Speise wilderte ich etwas durch die Regale, ohne dass in mir irgendeine Art der Leselust aufbegehren wollte. Dabei hatte der Nachmittag mit Bier und Musik mich etwas übermütig werden lassen. So begann ich das Fenster zu putzen, wiewohl dies bei der schon einbrechenden Dunkelheit vielleicht einige Aufmerksamkeit erregte, die ich für gewöhnlich gerade in meinem Wohnumfeld mit allen Mitteln zu vermeiden suchte.
Es gibt ja seltsamerweise Tätigkeiten, die ohne irgendeinen plausiblen Grund bestimmten Tages- oder Nachtzeiten zugeordnet sind. Dabei machen sie oft weder besonderen Lärm, noch erfordern sie viel Licht oder sind bei Helligkeit unausführbar. Und wenn sein Fenster zu putzen auch mit Sicherheit in den Abendstunden gar nichts zu suchen hatte und mir dementsprechend eine gewisse Befriedigung des unauslöschlichen Dranges zur Rebellion verschaffte, so ließ sich mit derlei kuriosem Handwerk doch keine ganze Nacht bestreiten. Ich landete also irgendwann wieder bei dem Roman, der mir schon zuvor den Schlaf geraubt hatte.
An die Schrift hatte ich mich schon gewöhnt, auch wenn sie teilweise äußerst unleserlich war. Es schien stellenweise so, als hätten zwei verschiedene, ja sogar gänzlich miteinander unvereinbare Personen diese Marginalien verfasst. Dabei stellte sich bloß die Frage, warum sie ein und denselben Stift verwandt hatten, denn dies ging aus der einheitlich abnehmenden Deckkraft und der Dicke der Linien deutlich hervor. Im Verlauf meiner sich intensivierenden Lektüre erwies sich das Werk mehr und mehr als unvorhersehbar. So hielt ich es zu meiner eigenen Überraschung am Abend des nächsten Tages wieder in den Händen. Dies setzte sich für einen recht langen Zeitraum so fort. Nicht, dass ich derart lange gebraucht hätte, um bis zur letzten Seite vorzustoßen. Zugegebenermaßen bin ich jemand, der des Öfteren der Versuchung nicht widerstehen kann, zuerst mit der letzten Seite eines Buches zu beginnen, oder in weit häufigerem Fall die Lektüre mit dem eigentlich letzten Satz einzuleiten. So kann man oft auch der ärgerlichen Zeitverschwendung entgehen, ein mit einem banalen: „und alles ward gut“-Ende versehenes Stück ganz zu lesen. Nicht, dass ich kein Freund von glücklich ausgehenden Geschichten wäre, aber widerstrebt es mir aus irgendeinem Grunde, wenn dieses endliche Glück sich so offensichtlich und nackend dem Leser bloßlegt. Solche Erwägungen haben natürlich überhaupt keine Relevanz in Bezug auf die Marginalien eines Buches.
Es war jedenfalls erstaunlich, wie sehr ich den Großteil der Eintragungen nachvollziehen konnte. Besonders da derartiger Schund, wie ihn das Rohbuch darstellte, mir niemals länger als ein paar Seiten hätte erträglich sein können. Ich war mir nun sicher, es müsse sich bei der Kommentatorin um eine junge, doch schon Frau handeln und diese Sie hatte einen so tiefen Zugang zu der an sich flachen Erzählung gefunden, dass selbst ich mich in diese hineinfinden konnte. Die einschlägigen Charaktere der Geschichte wurden lebhaft. Die herzliche Großmutter, das rebellische Mädchen, der schüchterne Junge und der strenge Vater; all dies wirkte plötzlich so plausibel. Und nüchtern betrachtet bietet das tatsächliche Leben selten mehr Varianz. Ja, genau genommen war dieses Buch ein anschauliches Beispiel für die niederschmetternde Unzulänglichkeit der Existenz! Nur das Ende nicht, denn das war happy, fast schon roch es nach Heirat und dergleichen.
Ihre Anmerkungen dazu waren selten von besonderer Tiefe. Was sie aber leisteten, war eine starke Verdichtung. Ganze Passagen der Marginalien verknüpften den Text mit dem Leben ihrer Autorin, beschränkte sie sich doch nicht allein darauf, dass Gelesene zu kommentieren. Man erfuhr von Sorgen und Gedanken, die sich größtenteils um die Zukunft drehten. Auch Namen wurden genannt und prekäre Begebenheiten schienen sich in seltsam deplazierten und zumeist schlüpfrigen Vierzeilern anzudeuten, welche ich an dieser Stelle nicht wiedergeben möchte.
Die Notizen waren keiner besonderen Ordnung unterworfen. Ich war mir recht sicher, dass einige der vorderen Seiten von einer älteren Person beschrieben worden waren als der Schlussteil. Alles deutete darauf hin, dass dieses Buch immer und immer wieder gelesen, dabei mehr und mehr hinzugefügt worden war. Es hatte ein Leben begleitet, in sich aufgesogen mit jedem neuen Wort, das an den Rand geschrieben worden war. Alles trat lebhaft vor meine Augen. Völlig ohne Zweifel, völlig ohne Spekulation. Nicht die Frage nach den Implikationen oder Vorraussetzung eines neben eine banale Passage über einen klischeehaft melancholischen jungen Knaben gekritzelten „Mann blaut nicht!“ beschäftigten mich. Ich wusste die Bedeutung. Und ich spürte, wer das war, der dies dort hin gekritzelt hatte. Jemand, den ich verstehen konnte.

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13. April 2008
3 Siel?
gonzosophie | 13. April 08 | Topic 'Fortsetzung folgt'
Es war schon wieder Hell. Siel hatte nicht sehr viel geschlafen und saß in einem amtlichen Warteflur. An manchen dieser Tage machte er sich vor, seine Isolation beruhe auf den eigenen Fähigkeiten, welche ihm die Banalität des Alltags zur Unerträglichkeit werden ließen. An anderen Tagen erkannte er dagegen seine starre Unfähigkeit gegenüber den banalsten Anforderungen des Alltags. Gerade das führte ihm die Wohnraumverwaltung wieder einmal vor Augen.
Siel kam sich vor wie Herr K. Eine unglaubliche Zeit schon wartete er hier, ohne eigentlich genau zu wissen wozu. Schließlich wird man von so einer seltsamen Dame abgefertigt, die einen dreimal mit falschem Namen anspricht und dabei nicht ein einziges Mal aufblickt. Aber von Gryphius lernen heißt lächeln lernen. Kaum ein Leben, das dem Sinnentleerten und der Nichtigkeit größere Bedeutung zumisst, als die verblendete Existenz einer verbeamteten Bürokraft. Auch ihr böses Erwachen wird noch kommen, Frau Majewski! (P – Z) So dachte Siel.
„Siel?“.
Oh nein, da hatte jemand doch eben seinen Namen gerufen. Er beschleunigte seine Schritte, der Türgriff war fast schon greifbar.
„Heda, Siel! Bist du nun auch noch taub?“.
Er drehte sich um und versuchte zu lächeln.
„Ach… hallo! Ähm .. na?“.
Es hatte ja mal eine Zeit gegeben, da er gerne Leute unvermittelt traf - auf einer Straße etwa, oder der Treppe hinauf zu den Seminarräumen. Damals hatte er sich aber auch noch regelmäßig rasiert und vorm Verlassen seiner Wohnung in den Spiegel geschaut.
„Du hast es mal wieder eilig, wie? Sicher schwer zu tun, oder … was machst du eigentlich hier? Warst du bei der Wohnraumverwaltung? Ich dachte...“.
Jetzt musste Siel sich bei jedem dieser Treffen erst einmal in Erinnerung rufen, wie er wohl gerade aussah. Wann hatte er sich das letzt mal rasiert, gekämmt? Die vergangenen 3 Tage waren etwas hektisch gewesen. Geduscht hatte gestern noch, nein, sogar heute. Ganz so schlimm konnte es also nicht sein.
„… du seist da längst ausgezogen. Naja, ist ja auch gar nicht so wichtig. Wo willst du denn jetzt eigentlich hin?“.
Er mochte diesen Menschen doch eigentlich, jedenfalls war er sich da recht sicher. Dennoch war ihm die ganze Situation unangenehm. Auch war die Lautstärke dem Sachverhalt gar nicht angemessen. Lautes Rufen sollte in der Öffentlichkeit die Ausnahme für den Notfall sein, doch hatte die Werbung dies wohl irgendwann pervertiert und bis zum Marktschreiertum verkommen lassen. Mittlerweile erschien es vielen Menschen ganz normal, sich auf offener Straße über große Entfernungen anzubrüllen. Siel fragte sich dennoch, wie man es sich einfach heraus nehmen konnte, einem Menschen hinterher zu rufen, der offensichtlich auf dem Weg zu etwas sehr Wichtigem war. Nicht dass er sich in Hinblick auf sein Tun überhaupt etwas sehr Wichtiges vorzustellen im Stande war, aber das sah man ihm nicht an. Im Gegenteil, er hatte es sich extra antrainiert, durch festen Schritt und eine entschiedene Miene derlei Fragen aus dem Weg zu gehen.
„Nach Haus.“
„Nach Haus? Da warst du doch heute schon!“
„Das tut nichts zur …“
Siel hielt inne. Es hatte gar keinen Zweck, Martin gegenüber irgendeine Ausflucht zu suchen. Dieser blickte ihn schon wieder so seltsam an, mit einer Mischung aus Erwartung, Sorge und Unternehmungslust. Sorge? Das war neu. Das gefiel ihm nicht, denn die Sorge war der größte Wegbereiter der Belästigung. Dagegen musste er etwas tun, so dachte Siel.
„Ach was solls, Bezahlbar?“.
Auf diesen Vorschlag grinste Martin ein „so gefällt mir das“ zur Antwort,
„Es ist ja auch schon halb drei durch, ich hoffe du hast mittlerweile gefrühstückt.“
Nun saßen sie also in der Bezahlbar. Siel war sich immer noch nicht sicher, ob sein Bart älter als die Wochenkarte war, doch die Kellnerin hatte sie beide vorhin angelächelt – das war ein gutes Zeichen. Siel war einmal ein Kneipengänger gewesen, dementsprechend viel es ihm verhältnismäßig leicht, sich in diesem Medium zu bewegen. Er war inzwischen etwas aus der Übung gekommen und auch die Bezahlbar wirkte sehr viel konzipierter auf ihn, als ihm das von dieser Art Kneipe in Erinnerung war. Er sah sich aber nicht weiter um, sondern blätterte nach alter Gewohnheit zuerst einmal durch den Speisezettel. Drei Biersorten hatten sie hier, immerhin. Dazu den üblichen Rest: Alt, Weizen und eine Breite Palette an Mischgetränken. „Mann blaut nicht!“, sprach er vor sich hin.
„Man blaut... ist das Benn?“
„Nein, das hab ich gestern in so einem Roman gelesen.“
Martin schaute verwundert.
„Soso, du liest nun also plötzlich Romane!“
„Ich lese keinen Roman, ich lese in einem Roman, das ist ein U“
Siel bemerkte die Kellnerin, welche wohl schon seit einiger Zeit still neben ihrem Tisch stand und unter farbenfreudigen Strähnchen erwartungsfroh auf die zwei Neuankömmlinge blickte. Sie orderten zwei große Pils. „DAS ist Benn“, dachte Siel und dabei fragte er sich, ob sich die Dienstpflichten einer Kellnerin vielleicht merklich reduziert hatten. Den Gast zu begrüßen und nach seinen Wünschen zu fragen, gehörte scheinbar nicht mehr dazu. Dies unterstrich die Kellnerin mit einem wortlosen Nicken um daraufhin zurück in die Tiefe des Raumes zu trippeln. Dabei gab sie den Blick auf zwei junge Studentinnen in der Ecke preis, die irgendetwas aus hohen Gläsern tranken. Sicher ein alkoholfreier Cocktail, dachte Siel, mit Zucker, Sahne oder dergleichen. Er pflegte Menschen oft danach abzuurteilen, welche Stoffe sie ihrem Körper öffentlich zuführten oder enthielten. Seiner Meinung nach sagte dies weit mehr über eine Person, über eine Gesellschaft aus, als Demonstrationen oder Wahlen es vermochten.
Das Eintreffen des Bieres stoppte Siels Gedanken. Martin erwartete, und das war sicher nicht ganz illegitim, dass man ihn beim Anstoßen auch ansah. So genau wusste Siel immer noch nicht, was er denn nun überhaupt mit ihm reden sollte. Aber da war ein Bier, der Rest würde sich schon ergeben. Und im Übrigen, „Mann blaut nicht!“, dachte er.

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11. April 2008
2 Die Wöchnerinnenkarte
gonzosophie | 11. April 08 | Topic 'Fortsetzung folgt'
Wann hatte ich angefangen mich auf diese Weise für Bücher zu interessieren? Ich weiß noch eines Tages saß ich in einem Zug, auf der Rückfahrt von einem Familienfest. Bei mir hatte ich eine Schillerbiographie, die ich günstig per Internet erstanden hatte. Ich war begeistert über meine Ersparnis bei diesem Kauf, vor allem da das Buch in tadellosem Zustand war. Man konnte das Druckaroma noch riechen, die Kanten waren messerscharf. Ich hatte mit der Biographie schon einige Zeit verbracht, als beim Umblättern plötzlich ein buntes Kärtchen heraus fiel. Es war keiner der gewohnten Werbeprospekte, keine Antwortkarte oder dergleichen. Es war die Grußkarte einer Mutter aus dem Wochenbett. Zuerst etwas verlegen, betrachtete ich das Frontmotiv unschlüssig, doch schließlich las ich die Karte. Der Text war kurz und nicht sonderlich überraschend: „Mir und dem Kleinen geht es sehr gut, wie geht es dir?“, etwas in der Art. Ich konnte sie dennoch nicht bewältigen. Diese Karte passte so gar nicht in dieses Buch. Ans Weiterlesen ließ sich nicht denken, bis ich nicht eine halbwegs plausible Verknüpfung zwischen beidem hatte. Bevor ich dies allerdings hätte schaffen können, hatte der Zug bereits mein Ziel erreicht.
Doch die Karte blieb auch zuhaus mein Lesezeichen. Ich las sie immer wieder durch, zwischen den Kapiteln, in Denkpausen. Welche Verbindung hatte die Wöchnerin zu diesem Buch? War die Adressaten auch die Leserin? Was brachte so jemanden zu meinem geliebten Schiller? Was hatte ein Mensch, den solch ein anderer Mensch kennt, wohl an dieser, an jener Stelle des Buches gedacht? Den Seiten selbst war nichts anzumerken. Nicht ein einziger Strich, nichts ausradiert, nichtmal ein Eselsohr. Wenn es eine Sie gewesen war, dann eine ziemlich penible und mit Erfahrung bei der Werterhaltung.
Irgendwie war mir diese Situation unangenehm. Was war zu tun? Sollte man der Dame ihre Karte zurück senden mit schönen Grüßen an den Kleinen, oder würde ihr dies peinlich sein, vielleicht sogar Angst machen? Ich kam zu dem Schluss, dass derlei Unternehmungen kaum einen Wert haben würden. Dennoch konnte ich die Karte nicht einfach wegwerfen, selbst als ich das Buch gelesen und meinerseits durch Unterstreichungen und Kommentare gezeichnet hatte. Sie gehörte untrennbar hinzu, auch wenn ich nicht genau erklären konnte wieso.
So sehr dachte ich auch gar nicht weiter darüber nach. Nur las ich plötzlich die Bücher aus der Universitätsbibliothek anders als zuvor. Ich begann mich nicht mehr sonderlich über noch so ausufernde Unterstreichungen und Kritzeleien zu ärgern, als sie vielmehr mit Interesse und Erwartung zu verfolgen. Ich las Text und Kommentar parallel, versuchte beides zur Deckung zu bringen, herauszufinden durch was für eine Vielzahl von Händen diese Bücher vor mir gegangen sein mochten. Teilweise hatten sie für mehr als 50 Jahre Studenten als Grundlage ihres Fachwissens gedient, hatten zig Kilometer in Taschen und Rucksäcken hinter sich und wussten nur zu gut, wie Kaffee schmeckt.
Leider gibt es wenig so lieb- und einfallslos durchgearbeitete Bücher wie die eines Universitätsinstituts. Ich habe nie verstanden, warum Leute genau das neben den Text schreiben, was wortwörtlich dort schon steht. Aber nicht nur, dass sich kaum Persönliches findet, selbst die Arbeitsnotizen sind von einer Banalität, die durch den Hang zum Unterstreichen jedes dritten Wortes nur noch verdeutlicht wird - das Unterkringeln von Fremd- und Fachwörtern – so etwas kann auf Dauer nicht fesseln.
Aus den Unibüchern konnte man nur die interessenlose Verzweiflung lesen, mit der mancher Student sie in Vorbereitung eines Referats durchwühlt hatte, mit Unterstreichungen versuchend sich zumindest Brocken des Textes längerfristig zugänglich zu machen. Und gerade deshalb waren sie durch so viele Hände gegangen, dass sich selbst auf dieser simplen Ebene keinerlei Zusammenhang mehr erkennen lies. Es fehlte das, was diese so intime Karte innerhalb eines völlig sterilen Buches geschaffen hatte: Eine Geschichte

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10. April 2008
1 Das eigenste Buch
gonzosophie | 10. April 08 | Topic 'Fortsetzung folgt'
Er war ein umgänglicher Mensch. Er las viel, nicht zuviel, aber doch gelegentlich, wie er sagte. Und er sprach gerne, leider meist mit sich selbst. Herr Siel, nicht gerade der Name eines Helden und damit sehr passend für ihn. Siel wohnte am Rande einer fast noch kleinen Stadt in einem noch kleineren Appartement. Dort saß er oft an seinem Fenster, sah der Sonne zu und den Menschen, die sich ihr aussetzten. Er selbst war blass. Wenn er doch einmal raus ging, so hastig und motorisiert.
Er besuchte dann meist eines der zahlreichen Antiquariate der Innenstadt. Geisterhäuser, wie er sie nannte. Dort war er niemals hastig; langsam schritt er durch die Reihen. Seine Bewegungen gravitätisch – den Objekten angemessen. Bücher, sein Blick suchte nach den verschlissenen, den abgegriffenen und ausgelesenen Exemplaren. Gerade auf jene, die beinahe schon aussortiert worden waren, hatte er es abgesehen. Klassiker meist, oder Romane zum Spottpreis. Obwohl ihn keine finanziellen Motive bewegten, er kaufte sie. Anschließend packte man sie ihm vorsichtig ein und so nahm er sie mit nach Haus.
Sein Apartment war alles andere als groß, aber bot doch Platz für eine Vielzahl von Regalen. Jeder Meter Wand gab dutzenden Brettern und Schränkchen halt. Es war ein beeindruckendes Bild, denn vom Eingang aus sah man nur Bücher. Er hatte den Raum durch mehrere Regalreihen geteilt und um zum Fenster zu gelangen, musste man erst sämtliche Buchmeter durchwandern.
Das Bett, der Kleiderschrank - alles bis auf die Kochzeile hatte weichen müssen. Seine Kleider lagen in einem kleinen Pappkarton am Fuße eines der Regale, in dessen Pfosten und in der gegenüberliegenden Wand er jeweils schwere Haken befestigt hatte. Wenn er müde wurde spannte er seine Hängematte auf und schlief wohlbewacht schwebend zwischen seinen Gefährten. Dabei lag meist eines der Bücher auf seiner Brust.
Doch an Schlaf konnte er nun nicht denken. Nervös nahm er die soeben erstandenen Werke aus seiner Tasche: Die Kritik der reinen Vernunft, Schillers Räuber und zu guter letzt ein Jugendbuch aus den 70ern. Er blätterte noch einmal kurz durch alle drei. In der Kritik waren, wie üblich, hauptsächlich Unterstreichungen, hier und da ein paar Randnotizen oder ein Verweis. Die Räuber hatte jemand ebenfalls eher lieblos kommentiert, Ausrufezeichen waren das Höchstmaß an Empathie hier, doch eine Notiz im Buchdeckel hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Eine persönliche Widmung - offensichtlich war dies ein Geburtstagsgeschenk gewesen. Die Kritik stellte er zu den anderen Exemplaren, die Räuber ebenfalls zu ihresgleichen, das Jugendbuch aber hatte noch keinen ähnlichen Vertreter. Mit ihm setzte er sich ans Fenster. Normalerweise interessierte er sich nicht so sehr für die Jugend.
Wie zu erwarten war, versprach der Klappentext eine völlig banale Geschichte. Solche Bücher trugen meist nur wenig individuelles Leben mit sich, wurden nach einmaligem Lesen und etwas Lagerzeit verschenkt, verscherbelt, weggeworfen. Nicht selten hatten sie jahrelang als einsame Vertreter ihrer Art in Kinderstuben oder Jugendzimmern gestanden. Als Zeichen guten Willens zu Geburtstag oder Firmung erhalten, mussten sie dort eine gewisse Zeit stehen bleiben, bis Staub auf die Sache gefallen war. Manchmal dienten sie weiterhin als Alibi, als Betrachtexemplare - ein kleiner Bücherzoo um nicht für lesefaul gehalten zu werden. Das sah man ihnen dann auch an. Außen grau, jedoch mit starren, altjungferlichen Seiten. Unberührt und unbeschrieben, nur von Maschinen beachtet worden, verblühten sie ohne dass sie jemand je betrachtet hätte.
Doch dieses hier war offensichtlich anders. Der Einband zeigte deutlich Tragespuren. Jemand musste es in seiner Tasche oft mit sich herum getragen haben. Auch hatte man auf dem Deckel herumgemalt. Was genau, das war nicht mehr erkennbar. Siel schlug das Buch auf.
Die angegilbten Seiten hatten geatmet. Auf den ersten Blick sah er Marginalien an beiden Seiten neben den Text geschrieben, ja sogar über und unter ihn. Sie waren teilweise ganz sorgfältig, manchmal jedoch in aller Eile hingekrakelt, brachen ab. Hier und dort war unterstrichen worden. Etwas hatte er bei diesem Genre jedoch genau so auch erwartet: Die Schrift ließ auf eine Frau schließen. Auf ein Mädchen vielleicht.

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8. April 2008
Prolog
gonzosophie | 08. April 08 | Topic 'Fortsetzung folgt'
„Wer bittet, soll aber voll Glauben bitten und nicht zweifeln; denn wer zweifelt, ist eine Welle, die vom Wind im Meer hin und her getrieben wird. Ein solcher Mensch bildet sich nicht ein, daß er vom Herrn etwas erhalten wird: Er ist ein Mann mit zwei Seelen, unbeständig auf all seinen Wegen.“ (Brief des Jakobus; 1,6–8)



Die Auswirkung des aufkeimenden Atheismus ist in erster Linie ein Gefühl der Einsamkeit - vor allem, wenn man sein Leben vorher in einer Kontinuität und Ordnung gesehen hat. Nicht nur die Verstorbenen verlieren sich im Nichts, es fehlt plötzlich auch am einzigen Gegenüber, dass man im stärksten Sinne des Wortes mit „du“ ansprechen kann. In diesem Zweifel besteht der ursprüngliche Virus, der einem jedes persönliche Gespräch mit Gott unerträglich macht. Fortan denkt man, redet man nur noch über ihn, nicht mit ihm. Der Zweifel wird Verzweiflung, in den Worten Kierkegaards eine Krankheit zum Tode: Angst.
Angst vor der Endgültigkeit des Seins und dem Verlust des Selbst, der das Ende bedeutet. Dies unter dem Vorzeichen, dass unser Leben nicht befriedigend sein, uns niemals aus dem Schleier der Einsamkeit befreien kann. Sollten lichte Momente auftreten, so haben sie immer den Beigeschmack der Vorläufigkeit. Nach einem alten Sprichwort soll man den Tag nicht vor dem Abend loben, kein Bier vor dem Trinken und über einen Mann sein Urteil erst fällen, nachdem er gestorben ist. Der Tod gibt dem Menschen seinen Namen.
Dieses memento mori heißt auch vergessen. Vor der letzten Nichtigkeit erscheint vieles völlig unbedeutend. Darunter fallen das eigene Selbstbild mit Integrität und Moral, aber auch etwaiges Streben nach Macht oder Ruhm. Noch in der Antike galt der Mensch als sterblich, aber herausragende Taten schienen innerhalb der Menschheit unsterblich. Längst jedoch hat der Mensch die Sterblichkeit der Menschheit erkannt, so wie man es mit Mitte 20 zu tun pflegt. Nichts lohnt mehr, es zu unternehmen, wenn es sich nicht absehbar rentiere. Das allerdings ist keine rein zeitliche Beschränkung. Auch das Bewusstsein, einmal stattlich beerdigt zu werden, lässt sich durchaus erleben, obschon der atheistische Zweifel die Perspektive für Vergangenheit und Zukunft stark verengt. Und deshalb ist die Angst auch der Tod für jeglichen Idealismus. Dessen Vorraussetzungen - ein Anspruch, Gewissen oder Glaube - können sich nicht länger erhalten. So erscheint es wahnwitzig und folgerichtig, dass die Romantiker in Anbetracht dessen eine neue, ideale Gottheit der Kunst erschaffen wollten, um der Krankheit zu begegnen. Sie versuchten auf sie mit Ironie zu reagieren.
Die Suche nach der idealen Gottheit muss wie die Suche nach dem eigenen Glauben auch heute wahnwitzig erscheinen und unerwünscht, ist doch jede Suche gesellschaftlich sanktioniert, die nicht nach Außen führt. Der Ungläubige sowie der Gläubige leben mit ihrer Überzeugung, haben gelernt zu funktionieren. Der Zweifel kennt kein Ziel. Der Zweifler bleibt ein Störfaktor, schneidet ihn seine fragende Suche doch immer mehr von allen Anderen ab. Ironischerweise isoliert die Suche nach dem „du“ vor allem den, der glaubt, es im menschlichen Gegenüber finden zu müssen. Von jemandem, der sich auf so eine Suche begeben hatte, handelt der vorliegende Text. Nichtsdestotrotz ist er recht kurz.

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