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gonzosophie | 18. April 08 | Topic 'Fortsetzung folgt'
Bei diesem Treffen wurde sie mir wieder einmal deutlich, diese Distanziertheit, die ich eingenommen hatte. Ich betrachtete meine Mitmenschen zusehends wie ein Tierfilmer seine Studienobjekte. Und dem entsprach auch mein Verhalten ihnen gegenüber, mich tarnend und möglichst reibungslos in den herkömmlichen Gang der Dinge fügend, um die Szenerie nicht zu stören und meine Beobachtungen weiterführen zu können. Als Teilnehmer fühlte ich mich schon lange nicht mehr.
Der Nachmittag nahm seinen Lauf, es wurde vorwiegend über die Geschichte der Panzerwaffe diskutiert und inwieweit gesellschaftliche Agenten Handlungsfreiheit besäßen. Die Studentinnen am Ecktisch neben der Theke blieben noch recht lange. Ich vermochte jedoch nicht, weitere Informationen über sie zusammenzutragen. Frauen sieht man auch so schwer an, was sie studieren, da sie ihre Studiengänge eher nach Spiegel-Listen als persönlichem Gutdünken planen.
Am frühen Abend entschuldigte ich mich unter einem Vorwand und kehrte zurück in meine Wohnung. Dort lag alles so, wie ich es verlassen hatte. Natürlich. Es war noch recht früh, also setzte ich mich ans Fenster und blätterte durch ein paar Banalitäten. Es ist ja im Nachhinein recht interessant, was man im Laufe der Zeit für eben dies hält. Und wie seltsam mutet es erst an, einige Zeit nachdem man es aufgeschrieben hat. Ich hatte lange nichts mehr geschrieben und die Lektüre bestärkte mich darin, es dabei zu belassen.
Nach den für die Aufrechterhaltung eines Wohnzustandes üblichen Notwendigkeiten und der Zubereitung einer eher dürftigen Speise wilderte ich etwas durch die Regale, ohne dass in mir irgendeine Art der Leselust aufbegehren wollte. Dabei hatte der Nachmittag mit Bier und Musik mich etwas übermütig werden lassen. So begann ich das Fenster zu putzen, wiewohl dies bei der schon einbrechenden Dunkelheit vielleicht einige Aufmerksamkeit erregte, die ich für gewöhnlich gerade in meinem Wohnumfeld mit allen Mitteln zu vermeiden suchte.
Es gibt ja seltsamerweise Tätigkeiten, die ohne irgendeinen plausiblen Grund bestimmten Tages- oder Nachtzeiten zugeordnet sind. Dabei machen sie oft weder besonderen Lärm, noch erfordern sie viel Licht oder sind bei Helligkeit unausführbar. Und wenn sein Fenster zu putzen auch mit Sicherheit in den Abendstunden gar nichts zu suchen hatte und mir dementsprechend eine gewisse Befriedigung des unauslöschlichen Dranges zur Rebellion verschaffte, so ließ sich mit derlei kuriosem Handwerk doch keine ganze Nacht bestreiten. Ich landete also irgendwann wieder bei dem Roman, der mir schon zuvor den Schlaf geraubt hatte.
An die Schrift hatte ich mich schon gewöhnt, auch wenn sie teilweise äußerst unleserlich war. Es schien stellenweise so, als hätten zwei verschiedene, ja sogar gänzlich miteinander unvereinbare Personen diese Marginalien verfasst. Dabei stellte sich bloß die Frage, warum sie ein und denselben Stift verwandt hatten, denn dies ging aus der einheitlich abnehmenden Deckkraft und der Dicke der Linien deutlich hervor. Im Verlauf meiner sich intensivierenden Lektüre erwies sich das Werk mehr und mehr als unvorhersehbar. So hielt ich es zu meiner eigenen Überraschung am Abend des nächsten Tages wieder in den Händen. Dies setzte sich für einen recht langen Zeitraum so fort. Nicht, dass ich derart lange gebraucht hätte, um bis zur letzten Seite vorzustoßen. Zugegebenermaßen bin ich jemand, der des Öfteren der Versuchung nicht widerstehen kann, zuerst mit der letzten Seite eines Buches zu beginnen, oder in weit häufigerem Fall die Lektüre mit dem eigentlich letzten Satz einzuleiten. So kann man oft auch der ärgerlichen Zeitverschwendung entgehen, ein mit einem banalen: „und alles ward gut“-Ende versehenes Stück ganz zu lesen. Nicht, dass ich kein Freund von glücklich ausgehenden Geschichten wäre, aber widerstrebt es mir aus irgendeinem Grunde, wenn dieses endliche Glück sich so offensichtlich und nackend dem Leser bloßlegt. Solche Erwägungen haben natürlich überhaupt keine Relevanz in Bezug auf die Marginalien eines Buches.
Es war jedenfalls erstaunlich, wie sehr ich den Großteil der Eintragungen nachvollziehen konnte. Besonders da derartiger Schund, wie ihn das Rohbuch darstellte, mir niemals länger als ein paar Seiten hätte erträglich sein können. Ich war mir nun sicher, es müsse sich bei der Kommentatorin um eine junge, doch schon Frau handeln und diese Sie hatte einen so tiefen Zugang zu der an sich flachen Erzählung gefunden, dass selbst ich mich in diese hineinfinden konnte. Die einschlägigen Charaktere der Geschichte wurden lebhaft. Die herzliche Großmutter, das rebellische Mädchen, der schüchterne Junge und der strenge Vater; all dies wirkte plötzlich so plausibel. Und nüchtern betrachtet bietet das tatsächliche Leben selten mehr Varianz. Ja, genau genommen war dieses Buch ein anschauliches Beispiel für die niederschmetternde Unzulänglichkeit der Existenz! Nur das Ende nicht, denn das war happy, fast schon roch es nach Heirat und dergleichen.
Ihre Anmerkungen dazu waren selten von besonderer Tiefe. Was sie aber leisteten, war eine starke Verdichtung. Ganze Passagen der Marginalien verknüpften den Text mit dem Leben ihrer Autorin, beschränkte sie sich doch nicht allein darauf, dass Gelesene zu kommentieren. Man erfuhr von Sorgen und Gedanken, die sich größtenteils um die Zukunft drehten. Auch Namen wurden genannt und prekäre Begebenheiten schienen sich in seltsam deplazierten und zumeist schlüpfrigen Vierzeilern anzudeuten, welche ich an dieser Stelle nicht wiedergeben möchte.
Die Notizen waren keiner besonderen Ordnung unterworfen. Ich war mir recht sicher, dass einige der vorderen Seiten von einer älteren Person beschrieben worden waren als der Schlussteil. Alles deutete darauf hin, dass dieses Buch immer und immer wieder gelesen, dabei mehr und mehr hinzugefügt worden war. Es hatte ein Leben begleitet, in sich aufgesogen mit jedem neuen Wort, das an den Rand geschrieben worden war. Alles trat lebhaft vor meine Augen. Völlig ohne Zweifel, völlig ohne Spekulation. Nicht die Frage nach den Implikationen oder Vorraussetzung eines neben eine banale Passage über einen klischeehaft melancholischen jungen Knaben gekritzelten „Mann blaut nicht!“ beschäftigten mich. Ich wusste die Bedeutung. Und ich spürte, wer das war, der dies dort hin gekritzelt hatte. Jemand, den ich verstehen konnte.
Der Nachmittag nahm seinen Lauf, es wurde vorwiegend über die Geschichte der Panzerwaffe diskutiert und inwieweit gesellschaftliche Agenten Handlungsfreiheit besäßen. Die Studentinnen am Ecktisch neben der Theke blieben noch recht lange. Ich vermochte jedoch nicht, weitere Informationen über sie zusammenzutragen. Frauen sieht man auch so schwer an, was sie studieren, da sie ihre Studiengänge eher nach Spiegel-Listen als persönlichem Gutdünken planen.
Am frühen Abend entschuldigte ich mich unter einem Vorwand und kehrte zurück in meine Wohnung. Dort lag alles so, wie ich es verlassen hatte. Natürlich. Es war noch recht früh, also setzte ich mich ans Fenster und blätterte durch ein paar Banalitäten. Es ist ja im Nachhinein recht interessant, was man im Laufe der Zeit für eben dies hält. Und wie seltsam mutet es erst an, einige Zeit nachdem man es aufgeschrieben hat. Ich hatte lange nichts mehr geschrieben und die Lektüre bestärkte mich darin, es dabei zu belassen.
Nach den für die Aufrechterhaltung eines Wohnzustandes üblichen Notwendigkeiten und der Zubereitung einer eher dürftigen Speise wilderte ich etwas durch die Regale, ohne dass in mir irgendeine Art der Leselust aufbegehren wollte. Dabei hatte der Nachmittag mit Bier und Musik mich etwas übermütig werden lassen. So begann ich das Fenster zu putzen, wiewohl dies bei der schon einbrechenden Dunkelheit vielleicht einige Aufmerksamkeit erregte, die ich für gewöhnlich gerade in meinem Wohnumfeld mit allen Mitteln zu vermeiden suchte.
Es gibt ja seltsamerweise Tätigkeiten, die ohne irgendeinen plausiblen Grund bestimmten Tages- oder Nachtzeiten zugeordnet sind. Dabei machen sie oft weder besonderen Lärm, noch erfordern sie viel Licht oder sind bei Helligkeit unausführbar. Und wenn sein Fenster zu putzen auch mit Sicherheit in den Abendstunden gar nichts zu suchen hatte und mir dementsprechend eine gewisse Befriedigung des unauslöschlichen Dranges zur Rebellion verschaffte, so ließ sich mit derlei kuriosem Handwerk doch keine ganze Nacht bestreiten. Ich landete also irgendwann wieder bei dem Roman, der mir schon zuvor den Schlaf geraubt hatte.
An die Schrift hatte ich mich schon gewöhnt, auch wenn sie teilweise äußerst unleserlich war. Es schien stellenweise so, als hätten zwei verschiedene, ja sogar gänzlich miteinander unvereinbare Personen diese Marginalien verfasst. Dabei stellte sich bloß die Frage, warum sie ein und denselben Stift verwandt hatten, denn dies ging aus der einheitlich abnehmenden Deckkraft und der Dicke der Linien deutlich hervor. Im Verlauf meiner sich intensivierenden Lektüre erwies sich das Werk mehr und mehr als unvorhersehbar. So hielt ich es zu meiner eigenen Überraschung am Abend des nächsten Tages wieder in den Händen. Dies setzte sich für einen recht langen Zeitraum so fort. Nicht, dass ich derart lange gebraucht hätte, um bis zur letzten Seite vorzustoßen. Zugegebenermaßen bin ich jemand, der des Öfteren der Versuchung nicht widerstehen kann, zuerst mit der letzten Seite eines Buches zu beginnen, oder in weit häufigerem Fall die Lektüre mit dem eigentlich letzten Satz einzuleiten. So kann man oft auch der ärgerlichen Zeitverschwendung entgehen, ein mit einem banalen: „und alles ward gut“-Ende versehenes Stück ganz zu lesen. Nicht, dass ich kein Freund von glücklich ausgehenden Geschichten wäre, aber widerstrebt es mir aus irgendeinem Grunde, wenn dieses endliche Glück sich so offensichtlich und nackend dem Leser bloßlegt. Solche Erwägungen haben natürlich überhaupt keine Relevanz in Bezug auf die Marginalien eines Buches.
Es war jedenfalls erstaunlich, wie sehr ich den Großteil der Eintragungen nachvollziehen konnte. Besonders da derartiger Schund, wie ihn das Rohbuch darstellte, mir niemals länger als ein paar Seiten hätte erträglich sein können. Ich war mir nun sicher, es müsse sich bei der Kommentatorin um eine junge, doch schon Frau handeln und diese Sie hatte einen so tiefen Zugang zu der an sich flachen Erzählung gefunden, dass selbst ich mich in diese hineinfinden konnte. Die einschlägigen Charaktere der Geschichte wurden lebhaft. Die herzliche Großmutter, das rebellische Mädchen, der schüchterne Junge und der strenge Vater; all dies wirkte plötzlich so plausibel. Und nüchtern betrachtet bietet das tatsächliche Leben selten mehr Varianz. Ja, genau genommen war dieses Buch ein anschauliches Beispiel für die niederschmetternde Unzulänglichkeit der Existenz! Nur das Ende nicht, denn das war happy, fast schon roch es nach Heirat und dergleichen.
Ihre Anmerkungen dazu waren selten von besonderer Tiefe. Was sie aber leisteten, war eine starke Verdichtung. Ganze Passagen der Marginalien verknüpften den Text mit dem Leben ihrer Autorin, beschränkte sie sich doch nicht allein darauf, dass Gelesene zu kommentieren. Man erfuhr von Sorgen und Gedanken, die sich größtenteils um die Zukunft drehten. Auch Namen wurden genannt und prekäre Begebenheiten schienen sich in seltsam deplazierten und zumeist schlüpfrigen Vierzeilern anzudeuten, welche ich an dieser Stelle nicht wiedergeben möchte.
Die Notizen waren keiner besonderen Ordnung unterworfen. Ich war mir recht sicher, dass einige der vorderen Seiten von einer älteren Person beschrieben worden waren als der Schlussteil. Alles deutete darauf hin, dass dieses Buch immer und immer wieder gelesen, dabei mehr und mehr hinzugefügt worden war. Es hatte ein Leben begleitet, in sich aufgesogen mit jedem neuen Wort, das an den Rand geschrieben worden war. Alles trat lebhaft vor meine Augen. Völlig ohne Zweifel, völlig ohne Spekulation. Nicht die Frage nach den Implikationen oder Vorraussetzung eines neben eine banale Passage über einen klischeehaft melancholischen jungen Knaben gekritzelten „Mann blaut nicht!“ beschäftigten mich. Ich wusste die Bedeutung. Und ich spürte, wer das war, der dies dort hin gekritzelt hatte. Jemand, den ich verstehen konnte.